Das Gefühl, das ich hatte, als ich am 16. November 2017 um kurz nach 18 Uhr in München in mein Flugzeug stieg, lässt sich ganz gut mit meinem zu diesem Zeitpunkt noch leeren Tagebuch vergleichen:
Dass sich die vielen leeren Seiten füllen würden, wusste ich. Doch was dort letztendlich alles zu lesen sein wird, war noch ungewiss. Dass ich das nächste halbe Jahr in einem fremden Land, weit entfernt von meinem gewohnten Umfeld, leben würde, wusste ich. Doch was genau mich dort erwartete, wusste ich noch nicht. Doch genau dieses Gefühl machte es für mich so spannend. Das Gefühl der Ungewissheit, das Gefühl, an nichts Bestimmtes denken zu müssen, sondern sich einfach auf das bevorstehende Abenteuer einzulassen, alles auf sich zukommen zu lassen. Die Vorfreude war groß!
Neue Menschen kennenzulernen, empfinde ich als eine sehr spannende und wichtige Erfahrung. Für mich bedeutet es nämlich, neue Einstellungen und Ansichten zu unterschiedlichsten Themen kennenzulernen. Monica, die Gründerin meines Projekts, einer Suppenküche in Goreangab, war für mich eine solche Person. Sie gründete das „Home of Good Hope“ vor 11 Jahren, als ihre Tochter mit 16 Jahren an AIDS starb. Jeden Tag zu sehen, mit wie viel Herzblut sie sich um jedes einzelne der 800 Kinder, die jeden Tag zur Soupkitchen kommen, kümmert, berührte mich von Anfang an. Manche Kinder nehmen jeden Tag einen Fußweg von eineinhalb Stunden auf sich, um wenigstens einmal pro Tag eine warme Mahlzeit zu bekommen. Ich bin mir aber sicher, dass nicht nur das gute Essen der Grund ist, weshalb so viele Kinder jeden Tag zum Home of Good gelaufen kommen. Es ist vor allem die gute Atmosphäre, die Monica durch ihre liebevolle, konsequente Strenge schafft und die auch ich jeden Tag zu schätzen wusste. Die Zuneigung und Struktur, die die Kinder bei ihr erfahren, ist mindestens genauso wichtig wie die tägliche Versorgung mit Essen und Trinken.
Dass ich immer wieder kleinere Erfolge miterleben durfte, machte die Zeit hier in Namibia unvergesslich. So konnte ich zusammen mit Monica der 5-jährigen Zion nach einigen Höhen und Tiefen letztendlich das Leben retten, nachdem wir ihren Vater nach langem Überreden dazu bringen konnten, mit uns und seiner Tochter zum Arzt zu fahren. Seine Anwesenheit war notwendig, um mit seiner Einverständniserklärung Zion Blut abnehmen zu dürfen und so die Ursache für die immer schlimmer werdenden Ausschläge an ihrem ganzen Körper herausgefunden werden konnte. Zion jeden Tag schwächer werden zu sehen, war schlimm und machte mir bewusst, wie wenig sich hier Eltern oft um ihre Kinder sorgen. Nichts unternehmen zu können, weil die Eltern sich weigern, mit zum Arzt zu kommen, verärgerte mich sehr. Umso mehr freute es mich, als Zion nach regelmäßiger Einnahme der Medikamente wieder sichtlich fröhlich und gesund zur Soupkitchen kam. Ich beobachtete mit Freude, sie endlich wieder mit viel Appetit essen zu sehen.
Es gab auch Tage, an denen ich Dinge erlebte, die mich positiv überraschten und die mir die Augen öffneten. An einem Nachmittag im März fuhr ich mit einigen meiner Deutschschülerinnen in die Stadt, um mit ihnen ein Eis essen zu gehen. Abgesehen davon, dass einige der Mädels zum ersten Mal in ihrem ganzen Leben in der Innenstadt waren, die ca. 8 km oder 15 Minuten mit dem Taxi von Katutura entfernt ist, brachte mich die Großzügigkeit von zwei der Mädchen zum Staunen.
Als die Mädels auf einem Spielplatz spielten und ich auf einer Bank saß, kam ein Betteljunge zu mir und ich gab ihm ein paar unserer Trauben ab, bevor er weiterlief. Als ich ihn schon gar nicht mehr sah, liefen Febelonia und Lovisa an mir vorbei in Richtung des Jungen. Erst jetzt bemerkte ich, was sie vorhatten. Sie hatten sich von ihren letzten 10$ Bonbons gekauft, von denen sie einige nun tatsächlich dem Jungen abgaben, und das, obwohl sie sich die Bonbons von ihrem eigenen Geld gekauft hatten und ohne dass sie jemand dazu aufforderte. Sie hatten wohl verstanden, dass es dem Jungen noch schlechter geht als ihnen selbst und wollten ihm eine Freude machen. Das zu beobachten, war eines der schönsten Erlebnisse und machte mich sprachlos.
„...und weißt du, Laura, am traurigsten macht mich, dass ich nie die Möglichkeit haben werde, dich in Deutschland besuchen zu kommen.“ Mit diesen Worten verabschiedete sich Febelonia, die mir über die Zeit sehr ans Herz gewachsen ist, am Tag meines Abschieds von mir. Worte, die ich erst viel später, Tage nach meinem Abschied, realisierte. Worte, die genau so gemeint waren, wie sie gesagt wurden. Worte eines Mädchens, das sich mir öffnete. Worte, die mich mitten ins Herz trafen. Worte, die mich immer an eine aufregende und einzigartige Zeit voller Höhen und Tiefen erinnern werden.
Nach über sechs Monaten ist mein Tagebuch nun bis auf die letzte Zeile voll, gefüllt mit jeder Menge Erlebnissen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Das Gefühl, das ich hatte, als ich am 3. Juni 2018 in mein Flugzeug zurück nach Hause stieg, war zwar nicht so aufgeregt wie noch sechs Monate zuvor, doch war ich glücklich. Glücklich, so viele tolle Menschen kennengelernt zu haben. Glücklich, immer wieder kleine Ziele erreicht zu haben. Glücklich, Dinge erlebt zu haben, die mir die Augen für vieles geöffnet haben.